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2005

Lehrgang in Leicester

Lehrgang in Leicester


Bericht vom Karate-Lehrgang mit Sensei Derek Ridgway, 6. Dan und Sensei Pasquale Petrella, 5. Dan in Leicester (England) am 1. und 2. Oktober 2005

von Jean E. Teuffen

Freitagmorgen um 8:15 machten sich drei Müllheimer Karatekas (Sensei Pasquale Petrella, Petra Gilgin, 1. Dan und Jean E. Teuffen, 4. Kyu) auf den Weg nach Leicester in die englischen Midlands. Dort nämlich würde mit den Senseis Derek Ridgway (Birmingham) und Pasquale Petrella (Müllheim) im Dojo von Sensei Dave Wilkins ein Wochenendlehrgang stattfinden.

Der Flug von BaseI/Mulhouse aus verlief vollkommen ruhig und um 10:30 landeten wir auf dem nördlich von London gelegenen Flughafen Luton. Bereits in der Warteschlange an der Passkontrolle erfasste Jean völlig unvermittelt das aufregend belebende Gefühl vom Unterwegssein in der Welt, wie es ihm von früheren Reisen her vertraut war. Ihm war, als werde es von einem unausgesprochenen Einssein mit den bunt pulsierenden Eindrücken dieser multikulturell-englischen Gesellschaft wie hervorgerufen. Denn in der Tat, diese hatte uns soeben zu umspülen und aufzunehmen begonnen.

Eine Stunde später fuhren wir im gemieteten Skoda Oktavia auf dem M1 Richtung Norden. Der Linksverkehr sowie die spiegelbildlich vertauschte Anordnung der Bedienelemente bei gleichbleibender Bedienweise können den Kontinentaleuropäer schon etwas irritieren. Nicht so unseren Sensei Pasquale, der mit einem für alle spürbaren Vergnügen den kräftig-ruppigen Motor auf Touren und uns zielsicher Leicester näher brachte. Kein Wunder, denn hier hatte er vor nunmehr ziemlich genau zehn Jahren ein Jahr lang gelebt, studiert, Freundschaften geknüpft und natürlich viel, viel Karate betrieben.

Jean lotste mit einem Stadtplan auf den Knien und nach zwei Stunden standen wir vor dem Häuschen, in welchem Sensei Dave Wilkins mit Lauren - auch sie begeisterte Karateka und Danträgerin - leben. Mit einem großen Becher englischen Tees hieß sie uns willkommen und wir sanken in riesige Ledersofas, die fast die Hälfte des kleinen Wohnzimmers ausfüllten. Die andere Hälfte wie auch die Wände waren von unzähligen Pokalen, Medaille und Urkunden aus der Welt des Karate und einigen japanischen Kalligrafien bevölkert. Während Sensei Pasquale Petrella schon munter drauflosparlierte, spitzten Petra und Jean angestrengt die Ohren, blinzelten vom einen zur anderen und bemühten sich, ebenfalls etwas zu verstehen (was übrigens im Verlauf der Tage stetig besser gelang).

Um ein paar Ecken gelangten wir zu Sensei Dave Wilkins Martial Arts Shop, wo wir auch ihn selbst, den Gastgeber des Lehrgangs, begrüßen konnten. Gemeinsam noch ein kleiner Snack im Pizza Hut, woraufhin sich Petra und Jean in ihre winzigen Einzelzimmer im Stoneycroft Hotel zurückzogen und Sensei Pasquale Petrella zu Sensei Dave Wilkins und Lauren.

Nach 21:00 Uhr traf man sich mit Sensei Derek Ridgway und dessen Partnerin im indischen Restaurant Shimla Pinks direkt an der London Road. Auch Tim aus Teneriffa, ein wortkarger Karateka mit blankrasiertem Schädel, war zugegen. Das Essen, fremdartig zwar, doch köstlich und umrahmt vom exotischen Ambiente indisch-britischer Kulturgepflogenheiten. Faszinierend auch das diskret-charmante Selbstverständnis, mit dem sich die Menschen - in der Mehrzahl Inder oder indischstämmige Briten - um uns her bewegten, sie uns bewirteten: Sie waren hier eine "Mehrheit" und bei sich; wir, die "Minderheit", genossen es, Gäste auf indisch sein zu dürfen. Ein aus sich selbst heraus stimmiges Zusammenspiel für alle Sinne! An diesem ersten Abend ging's dann bereits gegen 23:30 zurück zum Hotel.

Samstagmorgen um 9:00 Uhr ein "Continental"-breakfast und ab zum Dojo des Karate Club Leicester, ziemlich versteckt an der Humberston Gate in einem Kellergeschoss eingerichtet. Bereits in den Fünfzigern des letzten Jahrhunderts noch als Judo-Dojo gegründet, gilt es heute als eines der ältesten Karate-Dojos auf den Inseln überhaupt. Dieses Dojo, liebevoll gepflegt, atmete eine anheimelnde, sehr persönliche Atmosphäre und es war uns, als wohne hier ein langjähriger, durch intensives Karate-Training geformter und der Erhabenheit des Do verpflichteter Geist. Weder die Kleinheit noch die "tropisch-dicke" Luft nach jedem Training (Kondenswasser tropfte von der Decke und rann an den Wänden herab) konnten diesen Eindruck schmälern, im Gegenteil: Sie verliehen ihm zusätzliches Gewicht, Materialität gewissermaßen!

Von 10:00 bis 11:30 fand dann für die Kyu-Grade die erste Lehrgangseinheit mit Sensei Derek Ridgeway statt. Auf dem Programm: Heian Shodan mit Bunkai (Anwendung)! Dass diese "unterste", vermeintlich einfache Kata in der Anwendung ausgesprochen effektiv sein kann - vorausgesetzt die Techniken werden mit der nötigen Genauigkeit und Feinheit sowie einem stimmigen Timing durchgeführt - demonstrierte uns unser englischer Sensei auf beindruckend "einfache" Weise. In seinen Demonstrationen wirkten die Abschlüsse (Stöße, Tritte, Hebel und Würfe) spielerisch leicht, muteten geradezu filigran an und waren dennoch (oder gerade deswegen!) von höchster, den Angriff beendender Wirksamkeit (Jean, er durfte in dieser Einheit Vorführpartner sein, konnte dies wieder und wieder bezeugen). Und in der Tat, so Sensei Derek Ridgeway, sei es ein erklärtes Übungsziel, die Anwendungen dahingehend zu vervollkommnen, dass sich der Aufwand an Kraft für den Verteidiger auf ein Minimum reduziert! Interessant übrigens und für uns auffallend war, das die abschließenden Aktionen in ihrer großen Mehrzahl den Angreifer mit Hilfe von Arm- und Nackenhebeln, Griffen zum Hals- und in den Gesichtsbereich sowie gezielter Druckausübung auf Schmerz- und Vitalpunkte oder auch durch Würfe zu Boden zwangen. Dort wurde meistens mit einem Tsuki nachgesetzt und/oder mittels Hebel fixiert und zur Aufgabe gezwungen. Didaktisch ging der Sensei so vor, dass zunächst die Kata einige Male gelaufen wurde, danach demonstrierte er die erste Anwendung mehrmals in Normalzeit und in Zeitlupe, woraufhin wir sie einige Minuten übten. Dann die nächste Anwendung u.s.f. (insgesamt waren es ihrer acht), wobei nun auch stets einmal die komplette Anwendungsreihe bis zur jeweils zuletzt demonstrierten Technik geübt wurde. Dies stellte eine kontinuierliche sich steigernde Leistungsanforderung an Gedächtnis, Koordinationsvermögen und räumlicher Orientierung dar (sehr hilfreich war es, wenn es gelang, in Analogie zur jeweiligen Anwendung die entsprechende Kata-Sequenz innerlich zu "sehen").

11:30 bis 13:00 waren dann die Dan-Grade dran, um ihre erste Einheit bei Sensei Pasquale Petrella zu absolvieren. Unter ihnen natürlich auch Petra. Die Lehrgangsthematik des Senseis war vom Shotokan-Karate bestimmt, wie es Shihan Taiji Kase (29.02.1929-24.11.2004) weiterentwickelt, vertreten und gelehrt hatte. Am Anfang stand Kase-typisches Kihon mit offener Hand in Verbindung mit speziellen Atmungsübungen. Von den Blocktechniken mit entsprechender Atmung fand eine Hinführung zum Block mit Atobaya statt. Zusätzlich zur Atmung wurde großer Wert auf maximale Spannung im Kimepunkt und augenblickliche und völlige Entspannung im Moment danach gelegt. Im Zusammenhang mit besagtem Atobaya-Block wurde auch auf eine spezielle, von Sensei Pasquale Petrella selbst entwickelte Übung (den sog. "Block mit geschlossenen Augen") ausführlicher eingegangen: Der Verteidiger schließt die Augen und bewegt sich mit seinem abwehrenden Arm ganz langsam auf den in Tsuki-Stellung ausgestreckten Arm des Gegners zu. In dem Augenblick, in dem er den alterersten, zarten Hautkontakt spürt, erfolgt eine plötzliche, intensive Reaktion und Kime.

Jean versuchte prägnante Szenen mit der Digitalkamera zu fixieren (was sich aufgrund der Auslöseverzögerung der Elektronik als recht knifflig erwies), danach zog es ihn an die Außenluft und so stromerte er etwas in Leicesters Zentrum umher.

Von 15:00 bis 16:30 Uhr trainierten die Kyu-Grade bei Sensei Pasquale Petrella. Den Schwerpunkt bildete eine grundschulmäßige Heranführung an kraftvoll-lockeres Kumite. Dies wurde in mehreren Teilschritten mit je unterschiedlichen Schwerpunkten erarbeitet. Als aufwärmenden Einstieg übten wir mit wechselnden Partnern langsam-lockeres Randori: Die Betonungen lagen dabei auf einer präzisen Ausführung der Einzeltechniken und flüssigen Übergängen bei Technikkombinationen. Der Sensei konnte hierbei einen allgemeinen Überblick über Trainingsstand und -defizite gewinnen. Wie schwer es immer wieder fiel, locker und tief in eine Technik, z.B. den Gyaku Tsuki, hineinzugleiten, diese sauber (Hikite, Hüfteinsatz, Kime!) auszuführen, um wieder sofort und geschmeidig auf Distanz zu gleiten, davon könnte beispielsweise auch Jean - musste ihn sein Sensei doch immer wieder aufs Neue und stetig unmissverständlicher auf Verkrampftheiten, völlig ungenügendes Hikite oder fehlerhafte Distanz hinweisen - ein munteres Liedchen singen.

Das sich daran anschließende Kihon war auf die Feinheiten von Tsukis und Blocks und deren Koordination mit dem entsprechenden Vor- und Rückwärtsgleiten in Zenkutsu- bzw. Kokutsu Dachi ausgerichtet. Um zu üben, dass dieses Vor- resp. Rückwärtsgleiten später maximal explosiv schnell ausgeführt werden kann, unterteilte Sensei Pasquale Petrella die Bewegungssequenz zunächst in zwei Zeiten: Zuerst kraftvoll aus der Grundstellung mit dem hinteren Bein abdrücken (ähnlich, wie beim Sprintstart) und dieses blitzschnell in Kosa Dachi-Stellung neben den Vorderfuss des anderen Beines bringen (Stand bleibt unverändert tief!), dessen Fuß im gleichen Moment leicht nach außen gedreht werden soll oder darf (je nach Beweglichkeit des Sprunggelenkes), innehalten, dann erneut kraftvoll-impulsives Abdrücken mit ebendiesem zweiten Bein und nach vorne in neue Grundstellung schnellen. Danach wurde die Übung flüssig in einer Zeit geübt und schließlich in synchronisierter Kombination mit Tsukis und Blocks ausgeführt (langsam, schnell, schnell stark), was erneut erhebliche Herausforderungen an Synchronizität und Feinabstimmung des Koordinationsvermögens stellte.

Im dritten Übungsabschnitt der Einheit konnten die Techniken nun im Ippon Kumite mit Partner geübt werden. Und prompt waren sie wieder da, die altvertrauten Herausforderungen und wir hörten ihn, Sensei Pasquale Petrella, genau und unzweideutig: "locker bleiben!", "realistische Distanzen herstellen!", "Zielgenauigkeit!", "Hüfteinsatz!", "Hikite!" und, und, und ... Zum Abschluss der Einheit kehrten wir zum Jiu Ippon Kumite in der lockeren Randoriform zurück, wobei es nun galt, die soeben geübten Trainingsaspekte mit einzubringen.

Im direkten Anschluss, von 16:30 bis 18:00 hatten die Danträger - darunter wieder Petra und auch unser Sensei Pasquale Petrella - ihre zweite Einheit des Tages und ihre erste unter Leitung von Sensei Derek Ridgeway. Als Thema für seine beiden Lehrgangseinheiten hatte er die im Karate Do des Shito Ryu beheimatete Meisterkata Masumura No Bassai mit Bunkai ausgewählt. Jean übte sich auch hier wieder in der wundersam-heiteren Kunst digitaler Sportfotografie mit Auslöseverzögerung.

An unserem zweiten Abend trafen wir uns im Zentrum - diesmal waren noch etliche Lehrgangsteilnehmerinnen hinzugekommen - um 21:00 Uhr in einem stadtbekannten China-Restaurant, wo wir, die Abgekämpften, uns in ausgelassener Laune und dicht versammelt um zwei große Tische, an typischen Köstlichkeiten aus dem Küchenreich der Mitte labten. Eindeutiger Favorit für die feinsinnigen Gaumen der Müllheimer war hier die superknusprige Bejing-Ente! Pappsatt ging's zu Fuß eine Weile durch frische, städtische Nachtluft und dann - die Gruppe hatte sich auf überschaubares Maß verkleinert - hinein ins deftige Treiben eines typisch englischen Pubs (mit Karaoke-Ecke - zwar weniger typisch englisch, dafür eine putzige Referenz an die japanischen Wurzeln unserer geliebten Kampfkunst und passend zur entspannt-lockeren Stimmung dieser Nacht). Um 1:30 machten wir uns allmählich auf den Weg ins Hotel. Unterwegs unzählige, durchweg betrunkene Menschen (darunter sehr viele Jugendliche) in und auf den Strassen, die noch immer hartnäckig und lautstark ihre Feierlaune zum besten gaben (die jungen Frauen übrigens, trotz niedriger Temperaturen, auffallend spärlich bekleidet).

Am Sonntag ging es von 10:00 bis 11:30 Uhr für die Kyu-Stufe gleich bei Sensei Pasquale Petrella weiter, der das gestrige Kihon- und Kumite-Programm erneut aufgriff, vertiefte und um die vier elementaren Beintechniken Mae- Yoko- Mawashi- und Ushiro-Geri erweiterte. Beim Kihon wurde, zunächst wieder in zwei Zeiten und diesmal hauptsächlich in Kombination mit Mae Geri, explosives nach vorne Katapultieren in die eigentliche Beintechnik hinein geübt. Der Sensei legte großen Wert darauf, dass das Knie nach erfolgtem Abdruck des Beins weit nach oben gerissen und der Fußballen sofort in einer Schnappbewegung gerade im Zielpunkt traf und zurückschnellte. Insgesamt nahmen jetzt die Kumiteformen (Ippon Kumite und Jiu Ippon Kumite in lockerem Randori) mehr Raum ein, was dem Üben am Partner sehr entgegenkam, nachdem auch deutlich schwierigere Techniken (wie z. B. Ushiro Geri) hinzugekommen und die Variationsbreite an Kombinationsmöglichkeiten sich um ein Vielfaches vermehrt hatte.

Von 11:30 bis 13:00 in seiner ersten Sonntagseinheit übernahm Sensei Derek Ridgway die Dan-Träger, um mit ihnen weiter an der Kata Masumura No Bassai und deren Anwendung zu feilen - mit dabei natürlich Sensei Pasquale Petrella und Petra.

13:00 bis 14:30 durften die Kyu-Karatekas nochmals am profunden Fundus Sensei Derek Ridgways teilhaben. Diesmal war es die Kata Heian Nidan, um deren Anwendung es gehen sollte! Auch Petra nahm (zusätzlich zu ihren eigenen Trainingseinheiten!) teil und war als Danträgerin selbstverständlich des Senseis Vorführpartnerin für die Demonstration der Anwendungen. Der Aufbau des Trainings entsprach dem gestrigen, nur das die hier gezeigten Anwendungen der Heian Nr. 2 komplexer wirkten, ein höheres Maß an konzentrierter Wahrnehmung und Umsetzung erforderten, als die der Heian Shodan. Ganz zum Schluss ertönte des Senseis Aufforderung, nun noch einmal und möglichst flüssig die ganze, gestern erlernte Anwendung von Heian 1 zu versuchen. Obwohl, so stellte Jean z.B. hinterher fest, er die Abläufe mehrfach (mental und real) durchgegangen war und sich ihrer vor diesem Training noch sicher wähnte, hatte er größte Mühe, sie in diesem Moment, in dieser Situation (erschöpft und soeben voll mit Heian 2-Anwendungen beschäftigt) abzurufen und umzusetzen.

Übrigens waren Petra und Jean über die gesamte Einheit hinweg Übungspartner: Sie schenkte ihm nichts, er lies sich ungern lumpen und selbstredend steigerte sich ihr Kampfgeschehen in einem für alle wahrnehmbaren Maße, führte sogar zur anerkennend schmunzelnden Zufriedenheit eines nickenden Sensei Derek Ridgway ("yes, yes, verry good spirit!") und einem feixenden Sensei Pasquale Petrella nach dem Training ("Das sah aus, als wolltet ihr euch gleich umbringen. Ihr habt gut trainiert!").

Kräftig ins Zeug legen mussten sich von 14:30 bis 16:00 auch die Schwarzgurte in ihrer letzten Einheit dieses Lehrgangs: Nicht von ungefähr, ist Pasquale Petrella als Sensei grenzüberschreitend dafür berühmt, berüchtigt, begehrt (je nach Rezeption), ganz besonders großen Wert auf totalen Einsatz, auf frische Begeisterung, auf lodernden Kampfgeist ("spirit') zu legen (vielleicht sind ihm diese Eigenschaften sogar die wichtigsten aller Aspekte eines qualitativ hochwertigen Karatetrainings, ja, einer Auffassung von Karate - auch im Sinne des Do - überhaupt)!

Inhaltlich ging es zunächst um die Erarbeitung eines Verständnisses für den Unterschied zwischen Atobaya-Block und Schock-Block mit Offenen Hand Blocks. Hier legte Sensei Pasquale großen Wert auf das Timing der Block- und Kontertechniken. Im 2. Teil des Trainings standen dann Mikiri -Übungen (Mikiri bedeutet: Mit den Augen schneiden. Was bedeutet den Angriff in jedem Moment der Bewegung genau zu sehen) an: Das bedeutete, beim Angriff kommen an: Fuß und Faust gleichzeitig (wie in der Grundschule) oder zuerst Faust, dann Fuß (sog. überlaufene Technik) oder zuerst Fuß, dann Faust.

Der dritte Teil des Trainings galt einem Aspekt des Prüfungsprogramms für den Nidan der Kase Ha Shotokan Ryu Karate Do Academy. Tai Sabaki-Block mit De-Ai-Fußstoß-Konter. Auch hier lag der Schwerpunkt wieder auf präzisem Timing: Den Angreifer treffen, während er noch aufsetzt!

Erschöpft und mit diversen Prellungen und Schwellungen, doch gelöster Dinge und leichten Gemüts begaben wir drei Müllheimer, Sensei Dave Wilkins und Lauren nach dem letzten Training uns noch ins nahe gelegene Cafe Nero, einen zentralen Ort für Spezialitäten der Kaffee- Tee- und Kakaokultur mit viel wohlduftendem Ambiente (das unweigerlich an koloniales Handelsleben aus Zeiten des Empire denken ließ) zum verweilen, schauen und schnuppern. Etwas für Flaneure eben.

Hinterher entführte uns Sensei Pasquale Petrella noch obligatorisch in jenen Stadtteil, in dem er 1995 gelebt hatte, zeigte uns dort das Häuschen das er bewohnt, den Inder (Sheka Defi); bei dem er das beste Essen auf Erden genossen und den Pub, in dem er die eine und andere seiner damaligen Nächte verfeiert hatte.

Sheka Deli, das indische Spezialitätenrestaurant aus Sensei Pasquale Petrellas Studententagen also, war es denn auch, welches wir, der Sensei selbst, Petra und Jean, an unserem letzten Leicesterer Abend im typisch englischen Taxi ansteuerten. Es war ein ausgesprochen anregend gepflegter Abend, mit verschiedenartigsten, von mild bis feuerscharf, gewürzten Gerichten indischer Tradition. Und so umwerfend gut es auch ihm geschmeckt hatte, damals, vor zehn Jahren, damals sei es noch etwas besser gewesen, gab sich unser Sensei überzeugt.

Der Montagvormittag war dem Umherschlendern ohne festes Ziel und einem beschaulichen Sichtreibenlassen im Zentrum Leicesters vorbehalten: Bunte Menschenströme in einem zum Shoppingcenter umgebauten ehemaligen Fabrikgebäude, in der Fußgängerzone, auf einem Gemüse- und Trödelmarkt und in zahlreichen Gassen mit kleinen Läden - und wir drei ein Teil des Ganzen, plaudernd, schauend und auch in Gedanken, jeder für sich.

Mittags noch ein Abstecher zum Kampfkunstshop, dort kurzer, freundlicher Abschied von Sensei Dave Wilkins und schon ging's wieder Richtung Süden und Flughafen London/Luton. Währenddessen war der Actavia erfüllt von Pavarottis Tenorstimme, "frisch" von Opernfan Sensei Pasquale Petrellas neuerstandener CD! Und alles lief glatt.

Doch dann hoppla: unser Abflug, vorgesehen für 19:00 Uhr, würde sich um ca. zwei Stunden verschieben, konnten wir lesen. Grund unbekannt. Also einchecken und sich die Zeit im Terminalbereich vertreiben. Nach 21:00 Uhr saßen wir endlich festgezurrt in unseren Sitzen und warteten und dachten: "Hat ja doch noch alles geklappt." Aber Fehlanzeige, der Flug sei gestrichen, aussteigen, zurück zum Terminal, neue Anweisungen abwarten, hieß es. Grund ungenannt. Verstohlenes Sich-Umschauen, was sind das für Gesichter um uns her (wie "bunt", oder etwa verdächtig?), deutet irgendetwas auf aufkeimende Nervosität, Unruhe, Angst (hier in der Enge und in London ...)? Offenbar noch nicht. Dann die Nachricht, dass ein Fluglotsenstreik in BaseI/Mulhouse der Streichungsgrund gewesen sei. Allgemeine Erleichterung, Geplapper und emsiges Telefonieren nach Hause. Im Terminal dann Durcheinander, Ungewissheit ob heute noch was fliegt, ob's Platz gibt oder hier übernachtet werden muss, ob in der Halle, ob im Hotel. Es gab keinen Platz mehr für uns, aber morgen einen Flug nach Genf und um 12:30 wurden wir nach Luton ins Hotel Royal Oriental gefahren: Für jeden gab's ein Einzelzimmer, doch zuvor drängte es Sensei Pasquale Petrella noch an die nächtlich verwaiste Hotelbar. In gemischt asiatischem Ambiente (zwischen indischem und chinesischem Kunsthandwerk und großzügigen japanischen Kalligrafien) ließen wir uns, ein wenig erschöpft, noch für ein gutes Stündchen in tiefe Sessel sinken, unterhielten uns, erfuhren ein wenig mehr voneinander, von früher, auch von unseren Leben abseits des Karate. Eine ruhige, vertrauensvolle Stimmung begleitete diesen neuerlichen, nun wirklichen Ausklang dieser unfreiwillig verlängerten Lehrgangsreise zu dritt.

Nach oberflächlichem Kurzschlaf brachen wir am Dienstag um 4:15 Uhr schon wieder zum Flughafen auf, um bei den Ersten zu sein, die einchecken können, die ganz vorne sitzen würden, um als erste beim Genfer Autoverleih zu sein und einen vernünftigen Wagen zu bekommen. Es war denn auch ein nagelneuer BMW 524 Turbodiesel (mit deutschem Kennzeichen, deswegen günstig im Preis), mit dem wir um 10:30 Uhr in Richtung Nordschweiz fast lautlos davonhuschten. Und noch imposanter, klarer und fülliger schwang sich Pavarottis Stimme jetzt aus vielen Lautsprecherboxen zu uns. Gegen 14:30 waren die drei Karatereisenden wieder zu Hause.


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